Eine Antwort auf Harald Martenstein: Die Zeit der Grünen hat gerade erst begonnen
Dieser Beitrag ist am 28. April 2017 im Tagesspiegel erschienen. Um zum Original zu gelangen, klicken Sie hier.
Die Grünen hätten sich zu Tode gesiegt, schreibt Harald Martenstein. Diese Erzählung ist gerade anscheinend in, sie hat aber nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Nie war eine Partei der Vernunft und der Freiheit so wichtig wie heute.
Ein Wahlkampfnachmittag in Neumünster. Es ist kalt, Ostwind lässt es noch kälter erscheinen. Ich stehe mit Aminata Touré auf dem Marktplatz. Wir reden, die Leute bleiben stehen, bilden eine Traube und noch mehr bleiben stehen. Trotz Ostwind. Aminata ist eine junge Frau, ihre Eltern sind vor dem Bürgerkrieg in ihrer Heimat geflohen. Sie war es, die vor einem Dreivierteljahr unseren Parteitag in Neumünster sprengte, weil ein paar Straßenzüge weiter eine NPD-Demo stattfand. Sie forderte, dass wir jetzt alle zur Gegendemo hingehen, weil nicht entscheidend sei, was auf Parteitagsbühnen gesprochen wird, sondern was in der Wirklichkeit stattfindet. Ich dachte: coole, mutige Frau. Und dann, weil ich ja Amtsträger bin, war sofort die Polizei da und wollte mich auf dem Weg zur Demo abschirmen. Ich dachte, grüne Demo und Polizei in Kampfmontur, das passt nicht. Und wollte sie wegschicken. Aber Aminata sagte: Ich finde es super, wenn die Polizei mit uns geht. Dann fühle ich mich sicherer. Zum zweiten Mal dachte ich: coole, mutige Frau. Das ist linker Patriotismus: Zur Anti-Nazi-Demo gehen und ein zugewandtes Verhältnis zur Polizei haben.
Aufgeräumte Stimmung in Neumünster. Ich lasse den Blick über die inzwischen richtig kleine Menschenmenge schweifen. Harald Martenstein ist nicht darunter. Aber seine Klage habe ich schon oft gehört: „Früher habe ich die Grünen gewählt. Aber heute geht das nicht mehr.“ Seit der Vertreibung aus dem Paradies klagen die Menschen, dass früher alles besser war (war es aber meistens nicht), und als Shakespeare nicht mehr Tragödien, sondern Komödien schrieb, begann der Niedergang der Kultur….
Politik ist nicht so sehr viel anders als Dramen. Sie lebt von Erzählungen. Und sie ist in einem gewissen Maße selbstreferentiell und selbstverstärkend. Die Erzählungen werden immer wiederholt, und im Moment ist die vom Abstieg der Grünen hip. Aber es zeugt erstens nicht von besonderer Erzählkunst, zu wiederholen, was sowieso alle schreiben und zweitens muss man sich klar machen, dass Geschichten auch eine Wirklichkeit herstellen. Wir sehen das, was uns gesagt wird, das wir sehen sollen.
Nun wäre es geradezu albern, politisch naiv und einfallslos, auf Mitleid und Zuspruch zu hoffen. Zustimmung muss man schon selbst gewinnen. Wenn man nicht offensiv ist, ist man in der Defensive. So einfach ist das.
Das aber ist eine Botschaft der Hoffnung für die Grünen. Wir haben es selbst in der Hand, wie über uns gesprochen und geschrieben wird. In Schleswig-Holstein geht die Geschichte so: Wir sind nicht eine Randgruppe der Gesellschaft, sondern fest in ihrer Mitte verankert. Wir sagen „unser Land“ und „Heimat“. Das „unser“ ist kein Besitzanspruch, sondern ein Bekenntnis für das gemeinsame Land. Wir füllen das mit unserem Auftreten und Handeln. Wir halten uns in unserem Wahlkampf nicht mit Kritik an anderen auf, sondern sagen, wie wir es machen wollen. Wir reden nicht schlecht über andere Parteien, wir machen Mut für Veränderung und Solidarität, wir sind eine Dafür-Partei. Wir prägen einen Politikstil, der Menschen einbindet und ihnen Verantwortung zumutet.
Wenn Harald Martenstein schreibt, die Grünen sind die Partei der Papiere, dann hat er uns lange nicht im Feld erlebt. Ich würde ihn gern in die Wirklichkeit nach Schleswig-Holstein einladen. Hier gibt es nicht nur kalten Ostwind, Schnee Ende April und Regen, der von der Seite kommt. Hier gibt es alles, was unsere grünen Themen gesellschaftlich relevant macht, und zwar überall im Land. Bequem und aus Papier ist da wenig (Papier weht hier eh zu leicht weg).
Wir Grünen sind in fünf Jahren Regierungsverantwortung dahin gegangen, wo es wehtat: Saalschlachten und Trillerpfeifen in Turnhallen, weil die Menschen es – verständlicherweise – doof finden, wenn man ihnen eine Stromleitung vor die Nase setzt. Ein Leben ohne Strom finden sie aber auch doof, und mit Atomkraftwerken ist es irgendwie genauso. Es geht darum, trotzdem eine Lösung zu finden, mit der man leben kann, und das ist gelungen. So wird grüne Politik –eine Energiewende mit und für die Menschen – Wirklichkeit.
Harald Martenstein könnte auch gern mitkommen auf ein Boot der Fischer: Wettergegerbte Gesellen, hartes Handwerk, ein Leben mit und von der Natur. Und danach an den Seziertisch der Tierärztlichen Hochschule Hannover, wo tote Schweinswale untersucht werden, die sich ab und zu in den Stellnetzen der Fischer verheddern und elendiglich ertrinken. Wir Grünen in Schleswig-Holstein sind es, die als erstes Ostseeanrainerland überhaupt eine Lösung gefunden haben, die Schweinswale besser schützt und die Fischer weiter fischen lässt – und zwar mit den Fischern. Das geht nur, weil wir uns trauen, es anders zu machen statt mehr vom Gleichen zu liefern. Und weil wir bereit sind zur Demut: Zu erkennen, dass der andere vielleicht auch Recht und berechtigte Ansprüche haben kann.
Wir haben den Streit um die richtige Schulform beigelegt und einen Schulfrieden geschlossen, den Haushalt saniert und trotzdem Geld für Integration und Flüchtlinge bereitgestellt. Dass wir uns zu Tode oder zumindest in den Schlaf gesiegt haben, weil unsere Themen irgendwie Mainstream sind, ist Quatsch. Wann, wenn nicht jetzt, wird eine Partei gebraucht, die für Freiheit und Demokratie, für Rechtssaat und Humanität steht? Jetzt, wo überall der Populismus erstarkt, wo Trump regiert und Frankreich in der Stichwahl eine EU-feindliche, rechtsextreme Präsidentschaftskandidatin hat, ist es Aufgabe der Grünen, Kraft der Vernunft und Partei der Moderne zu sein, eine Partei, die für die Prinzipien der Moderne – Vernunft, Freiheit, Solidarität – streitet.
In der Tat ist das eine veränderte Rolle der Grünen. Nach den Protest- und Projektjahren hat eine dritte Phase begonnen: die als Gesellschaftspartei. Wir müssen uns ums Ganze der Gesellschaft kümmern. Unsere Themen ziehen sich weit durch alle Lebens- und Politikbereiche hindurch und beschreiben die Aufgaben für die nächste Jahrzehnte: Ist eine Sicherheitspolitik ernsthaft noch ohne Klimaschutz denkbar? Sicherheitspolitiker sagen nein. Ist eine Industriepolitik, die Arbeitsplätze in der Autoproduktion noch in 20 Jahren in Deutschland ermöglicht, ohne Energiewende und Kohleausstieg möglich? Der Niedergang der alten Autoindustrien zeigt: Nein. Ist der Umgang mit Flucht und Vertreibung ohne gesellschaftliche Integration möglich? Nein.
Wenn die Ausgangsthese von Harald Martenstein stimmt, dass grüne Themen breit akzeptiert sind, dann ist das eine Ermunterung für breitere gesellschaftliche Verantwortung. Und ja, diese Partei sind wir: Wir sind diejenigen, die in den Regierungen von elf Ländern Verantwortung für das Ganze tragen. Alle Minister und Ministerinnen haben einen Eid geschworen, zum Wohle der Menschen im Land zu wirken – nicht nur der grünen Mitglieder, sondern aller Menschen. Das ist der Quantensprung. Das ist die neue Geschichte. Es ist die Geschichte von Aminata und Menschen wie Aminata. Von Veränderung, Verantwortung und Lässigkeit. Im Norden erzählen wird sie schon – und nicht nur hier.
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